Es ist einmal mehr ein grauer Montagmorgen. Das ganze Wochenende schien
die Sonne, ich habe mir sogar einen kleinen Sonnenbrand auf der Nase geholt,
weil ich meinen Eltern beim Heuen
geholfen habe. Doch kaum beginnt die neue Woche, schiebt sich Nebel in die Welt
und verhängt die Straßen der Stadt mit grauem Dunst. Die Kaffeemaschine
blubbert und stöhnt, ich müsste sie dringend mal wieder entkalken. Das hat bis
vor kurzem noch mein Mitarbeiter erledigt, doch er hat sich versetzten lassen.
Ich kann es ihm eigentlich nicht verübeln, ich bin die reinste Sauerbohne, aber
ich bin schon ärgerlich deswegen. Jetzt muss ich schon wieder einen Neuling
anlernen. Warum mir diese Aufgabe zufällt, weiß ich auch nicht. Vermutlich als
Härtetest für die neuen Anwärter.
Ich starre auf die
unerledigten Berge von Akten vor mir. Wenigstens verlässt mich mein treuer
Kugelschreiber nicht. Ich habe ihn schon, seit ich vor fünf Jahren in dieses
Büro mit seinem grauen Linoleumboden und den lindgrün gestrichenen Wänden
eingezogen bin. Mein Vorgänger hat ihn auf dem angeschraubten Holzschreibtisch
liegen gelassen.
Lustlos nehme ich
ihn in die Hand, schlage einen beliebigen Pappdeckel auf und starre auf die
Formulare, die ich ausfüllen muss. Doch meine Gedanken wandern zu Lilly, meine
getigerte Katze. Seit Freitagabend habe ich sie nicht mehr gesehen, als wir uns
gemeinsam einen Film angesehen hatten. Ihr Schüsselchen ist immer noch voll,
dabei verpasst sie nie die Gelegenheit, wenn ich sie neu befülle. Es sieht ihr
gar nicht ähnlich, so lange fern zu bleiben. Sorgenvoll starre ich vor mich
hin, bis ich bemerke, dass das Blubbern der Maschine aufgehört hat. Der Kaffee
ist fertig. Doch noch bevor ich eine Tasse holen kann, klingelt das Telefon.
Ich nehme ab und melde mich: „Herzog!“
„Morgen,
Kommissarin Herzog, ich habe einen Leichenfund. Der mutmaßliche Tatort befindet
sich Im Wilhelminischen Ring 14. Die Haushälterin hat ihre Arbeitgeberin tot in
der Halle gefunden. Ich habe Sie eingeplant, zusammen mit der neuen Anwärterin,
Alima List. Sie ist schon vor Ort. Noch Fragen?“
„Nein, Chef. Ich
fahre sofort los.“
Es ist nicht das
erste Mal, dass der Kaffee fertig ist und ich weg gerufen werde. Dann nehme ich
den Kaffee eben mit, dafür habe ich extra Thermobecher für alle gekauft. Aber
ich durchwühle umsonst den Schrank. Die Thermobecher sind mit meinem letzten
Mitarbeiter ausgezogen. Ich sage es ja, wenn es kommt, dann dick.
Ich stelle die Maschine
aus, und jammere den ganzen Weg zur angegebenen Adresse in meinem Auto, um den
schönen heißen Kaffee. Als ich das Haus Nummer 14 erreiche, ist der erste
Gedanke, der mir durch den Kopf schießt: „Hier wohnt der Geldadel.“ Der zweite
und dritte Gedanke: „So ein Mist! Das Tor ist zu!“
Hinter einer gut
zwei Meter hohen Mauer kann ich zwischen den Wipfeln zweier seltener Pyramideneichen
eine in vanillegelb getünchte Villa erblicken. Es hilft alles nichts, ich parke
erst einmal in einer Bucht, zwanzig Meter die Straße hinab und gehe zurück, um
das schmiedeeiserne
Tor zu öffnen. Die Flügel sind nur angelehnt, sodass ich sie ganz leicht
öffnen und arretieren kann. Als ich fertig bin, höre ich hinter mir einen Wagen
den Kiesweg hinab kommen. Im Umdrehen weiß ich schon, wer es ist und meine
Intuition wird nicht enttäuscht: Es ist tatsächlich Falko Kölling, der Kollege
von der Spurensicherung. Der Gutaussehende. Der Talentierte. Der Vielwissende.
Muss ich noch mehr aufzählen? Ja, ich bin in ihn verliebt! Schon seit ich ihn
vor sechs oder sieben Jahren das erste Mal sah. Jetzt durchziehen Silberfäden
sein schwarzes Haar, dass immer noch im selben Schnitt wie vor sechs oder
sieben Jahren über sein Haupt wallt.
Er hält an, lässt
sein Seitenfenster herunter und meint mit spitzer Ironie: „Morgen! Siehst du
heute aber wieder gut aus!“
Ich grinse ihn an,
weil ich für jedes seiner Komplimente empfänglich bin, auch wenn dieses nicht
so ganz ernst gemeint zu sein scheint. Der sich pellende Sonnenbrand auf der
Nase und die dunklen Ringe unter meinen Augen, Zeugen des anstrengenden
Wochenendes mit der vergeblichen Suche nach Lilly, sehen bestimmt nicht gut
aus.
Nachdem ich ihn
begrüßt habe, fährt er fort: „Ich habe alles abgecheckt, du kannst loslegen.
Den Bericht bekommst du spätestens übermorgen. Ach ja, der neue
Leichenbeschauer steht noch im Stau und dann wartet auf dich eine schöne
Überraschung! Viel Erfolg, wir sehen uns!“
Falko grinst merkwürdig
bei seinen Worten, als sei die Überraschung gar nicht so schön. Eine
unangenehme Vorahnung überfällt mich, sodass mein Sodbrennen heftiger wird, als
er davonfährt.
Trotzdem versuche
ich mich jetzt auf den neuen Fall zu konzentrieren. Entschlossen drehe ich mich
um und erblicke einen zauberhaften Garten, der verschlafen im morgendlichen
Sommernebel liegt. Ich beschließe spontan, den Rest des Weges durch den
wunderschönen Garten zu Fuß zu gehen, um ein Gefühl für die Erlebniswelt der
Hausherren zu bekommen. Nahezu überall blühen Rosen in leuchtendem Rot und
verströmen ihren herrlichen Duft, eine Bank aus Sandstein lädt zum Verweilen
ein. Der Nebel dämpft die Sicht auf die hektische Stadt ringsum, er hüllt mich
in ein Gespinst aus Wasserfäden. Für einen kurzen Moment empfinde ich einen
tiefen Frieden. Ich schließe die Augen, lote dieses unerwartete, kostbare
Geschenk voll aus.
Als ich meine
Augen öffne, hat sich die Nebelschwade vor mir gelichtet. Ich erschrecke
zutiefst: Da ist doch jemand! Für eine kurze Sekunde, so meine ich, eine
Gestalt im Nebel zu erkennen! Da schiebt sich der undurchdringliche Dunst
wieder zusammen. Mit der Hand am Halfter meiner Dienstwaffe trete ich auf das
pitschnasse Gras, rufe in den Nebel: „Halt, hier ist die Polizei! Wer auch
immer da im Nebel steckt, kommt jetzt heraus!“
Da erkenne ich vor
mir einen Kopf, dort, wo ich vorhin die Person vermutet habe. Sie hat sich
tatsächlich nicht bewegt. Der Kopf ist merkwürdig kahl und glänzend. Jetzt
verfluche ich meinen Entschluss, allein hierher gekommen zu sein. Wüsste ich
doch nur jemand an meiner Seite, dann wäre mir jetzt sehr viel wohler! Ich
mache noch einen vorsichtigen Schritt in die Richtung der Person und dann
erkenne ich es: Vor mir steht eine Skulptur aus Marmor! Verdammter Nebel! Wegen
einer Steinfigur habe ich meine Schuhe auf dem nebelfeuchten Rasen total nass
gemacht. Ich fühle, wie meine frischen Socken schon feucht werden. Zum Glück
hat das Niemand, schon gar kein Kollege, gesehen. Ich stapfe in meinen nassen
Socken zum Eingangsportal. Hier drehe ich mich noch einmal um und betrachte den
zurückgelegten Weg. Ein Gedanke steigt in mir auf: So ein wundervoller, gut
gepflegter Garten inmitten der hektischen Stadt, das ist purer Luxus. Meine
eigenen Versuche, wenigstens Kräuter in Tontöpfen zu züchten, scheitern
regelmäßig. Sie wollen einfach nicht mehr nachwachsen, wenn ich sie für eine
Mahlzeit abgeschnitten habe.
Ich merke, dass
ich neidisch auf diese wundervolle Oase werde. Schnell lenke ich meine Schritte
in die Eingangshalle der Villa. Hier liegt auch schon die Tote, mutmaßlich die
Hausherrin, und neben ihr kniet eine mir völlig fremde Person. Sie untersucht
mit Latexhandschuhen die Leiche. Ärger flammt in mir auf, mein Magen brodelt
stärker, doch bevor ich sauer reagiere, betrachte ich sie genau. Danach soll
sie die Gelegenheit erhalten, sich zu erklären.
Die Fremde trägt
ein dunkelblaues Blusenkleid, eine beige Strickjacke und dazu weiße, sehr
bequeme Römersandalen. Sie hat einen funktionellen Rucksack geschultert. Ihre
Tasche leuchtet rot und unterstreicht die flachsblonden Haare der jungen Frau.
Jetzt hat sie mich bemerkt, sie steht auf. Sie ist umwerfend schön und ich
würde so ein Geschöpf eher auf einem Modelaufsteg als an einem Tatort erwarten.
Ich weiß, dass es nichts bringt, neidisch auf so etwas wie Schönheit zu sein,
doch ich gebe es zu, ich bin es. Ich vergleiche mich sofort mit ihr, stelle
fest, wie viel älter ich bin, schätzungsweise fünfzehn Jahre, und wie viel mehr
Fältchen mir dieses Mehr an Leben schon beschert hat.
Sie blickt mich
mit erschrocken aufgerissenen, braunen Augen an: „Wer sind Sie? Ich habe Sie
nicht kommen hören!“
Sofort bin ich
besserer Laune. Ich halte meine Umgebung stets mit meinen Sinnen in Beobachtung
und dass sie mich nicht bemerkt hat, lässt mich schadenfroh grinsen, weil mir
inzwischen klar geworden war, dass sie die neue Praktikantin sein muss. Ich
ziehe meinen Ausweis und halte ihn ihr unter die Nase: „Ich bin Hera Herzog.
Sie sind die Neue in der MoKo?“
Sie schlägt ihre
Augen nieder und tritt einen Schritt zurück. „Ja, Frau Herzog. Ist MoKo die
Abkürzung für Mordkommission?“
Ich runzele die
Stirn. „Ja, selbstverständlich. Haben Sie dieses Wort noch nie gehört?“
Sie schüttelt keck
den Kopf, sodass die blonde Mähne fliegt. Ich wundere mich, was den Neulingen
heute so beigebracht wird, bevor sie auf das wahre Leben treffen. Vermutlich
nur Theorie. Dann strahlt sie mich an, schließlich bin ich der Chefermittler:
„Ah, ich habe Sie erwartet! Ich bin Ihre neue Assistentin Alima List. Sie
wurden von meinem Kommen in Kenntnis gesetzt? Ich komme direkt aus dem Studium,
dies ist quasi meine Lehrstelle. Der Leichenbeschauer hat eben Herrn Kölling
von der Spurensicherung angerufen. Er steht noch an der Baustellenampel, es
staut sich bis zur Autobahn zurück. Wir haben noch Zeit, bis er hier ist. Also,
was sollen wir jetzt als erstes tun, bis der Arzt eintrifft?“
Ich ziehe mir
betont langsam die obligatorischen Latexhandschuhe an, weil ich Zeit brauche,
eine Entscheidung zu treffen. Wie soll ich mich ihr gegenüber weiterhin
verhalten? Ja, ich bin neidisch auf Alima und ich arbeite, gerade in den ersten
Stunden einer Ermittlung, lieber allein, aber sie ist jetzt nun mal da und ich
soll sie fürs Leben vorbereiten.
Welcher Meinung
bist du, liebe Leserin, lieber Leser?
Soll ich sie fair und kollegial behandeln?
Oder
Von oben herab, schließlich bin ich der Chef?
Das Lied von Agonie und Wahnsinn:
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